Überleben versus Junge oder Mädchen...

Es klopft an der Tür. Ich höre Rolin mit dem Nachtpfleger reden und höre das Wort "caesarian" - ein Kaiserschnitt steht an und da ich sowieso wach bin und es immerhin schon 4:30 Uhr ist stehe ich auf, werfe meine OP Klamotten über und gehe mit. Die Patientin hatte bereits drei Schwangerschaften und mindestens einen Kaiserschnitt, den ihre Mittelliniennarbe ist sehr verbreitert. Die OP verläuft ohne Probleme und eine weitere kleine Erdenbürgerin bevölkert das Land. Schön!!! Als wir um 6:00 Uhr nach Hause kommen fragt Dolores: "was the baby alive?" - war das Baby am Leben? Wenn mein Paps füher nach Hause kam war meistens die Frage: Junge oder Mädchen? Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals die Frage nach dem überleben gestellt wurde...
Da wir heute nur zwei kleine elektiv-OPs geplant haben machen wir heute mal eine gründliche Visite bei *allen* Patienten (die letzten paar Tage waren wir aus Zeitmangel nur bei den chirurgischen und maternity Patienten...), d. h. bei etwa 70 Betten versuchen, das französische Gekrakel zu entziffern, um herauszufinden, warum die Patienten aufgenommen wurden. Ich stelle fest, das hier in Ermangelung vernünftiger diagnostischer Mittel, abgesehen von den eigenen fünf Sinnen, eine gewisse Schrotschußmedizin betrieben wird. Bei Fieber - und das haben fast alle - wird auf Malaria behandelt und da sowieso alle Würmer haben und mangelernährt sind gibt's noch Multivitamine und Wurmmedizin (Mebendazol + Praziquantel) dazu. Bei Anzeichen einer weiteren möglichen Infektionskrankheit wie z. B. Husten gibt's noch ein Antibiotikum obendrauf. Wenn die Patienten nicht mehr Erbrechen, selbstständig essen, fieberfrei sind und herumlaufen können, werden sie entlassen. Viele sind bei Aufnahme extrem anämisch - heutiger Rekord war ein Hb von 1,4 g/dl - und das gleich zwei mal: einmal bei einer Erwachsenen HIV positiven und bei einem etwa 2 jährigen, massiv unterernährtem Kind. Der kleine Wurm hat über 41 grad Fieber, wir Glauben nicht, dass er es bis zum Abend schaffen wird und schreiben deswegen nicht die komplette Medikation für die ganze Woche auf, sondern nur für die nächsten zwei Tage. Als ich abends aber noch einmal hingehe, hat er sich nicht wesentlich verschlechtert und ich beginne zu hoffen...
Wir können die Kinderstation und Innere
noch fertig visitieren, bevor wir im OP verschwinden.
Die Wechselzeiten haben sich übrigens wesentlich verbessert, seit ich Simeon auf dem Weg nach Hause von Moundou gestern so hoch gelobt habe und im selben Atemzug den Vorschlag machte, die Spinalanästhesien schon draußen im Aufwachraum zu machen, während wir bei der Hautnaht sind... Toll, das freut mich sehr und steigert meinem Respekt noch weiter. Simeon, ein hochgewachsener Anfang dreißiger mit intelligentem Blick und freundlichem Wesen ist nur ein angelernter Pfleger im OP, macht aber sämtliche Anästhesien, ist Springer und Steri und steckt damit so manche Pflegekraft in westlichen Ländern um Längen in den Schatten!
Gegen 13:00 glauben wir fertig zu sein, da wird uns von der Hebamme eine Gesichtslage vorgestellt, das Kind kommt also anstelle mit dem Hinterkopf, wie sich das gehört, sondern mit dem Gesicht zuerst...eine vaginale Geburt wird damit mehr als unwahrscheinlich und wir Blasen zur Sectio, bevor die Jungs aus dem OP abhauen. Während die Patientin vorbereitet wird, machen wir noch schnell Visite auf der Chirurgie und setzen noch einen Mandibularabszess und eine Tubenligatur auf die Liste - da glaubt man, man sei fertig...es gibt eben immer noch etwas!
Um 15:00 Uhr sind wir dann aber wirklich fertig mit dem OP und in der Emergency warten noch 4 Patienten auf mich, die über das Radio die Nachricht gehört haben, dass ein Neurochirurg im Lande sei. Manche kommen sogar von 600 km Entfernung angereist...! Es sind aber nur selten wirklich neurochirurgische Fälle. Von degenerativen Hüft- und Kniegelenken über mögliche Spinalstenosen über Parkinson und Epilepsien bis hin zu Speicheldrüsentumoren und essentiellem Tremor ist alles dabei. Ich glaube die kennen das Konzept des Fachidioten hier nicht... Zu allem Übel - oder auch zum Glück für mich ist die Auswahl an Antiepileptika hier sehr dünn: Diazepam, Phenobarbital und Phenytoin gibt es nichts - für Parkinson gibt's gleich gar nichts und Kopf- oder Wirbelsäulen-OPs können wir mangels Ausstattung nicht machen. Aber einen habe ich dann doch eingefangen: ein Kompressionssyndrom des N. Ulnaris nach Ellenbogenfrakrtur vor 4 Monaten. Dafür haben wir die Ausrüstung, so dass ich meine Lupenbrille doch nicht umsonst mitgeschleppt habe...
Gegen 16:00 Uhr mache ich mich auf den Heimweg und freue mich auf ein spätes Mittag- , bzw. frühes Abendessen.
Wir berichten vom Tag, den Operationen und Patienten, von der zweiten Sectio am Nachmittag, davon, dass das Kind nicht sofort schrie und der angespannten Stille während der Reanimation im OP und dem erlösenden Schrei des Kindes als wir den Uterus schon fast zu haben. Und wieder ist das Hauptthema. Was the baby alive? Wie schön - und für euch zu Hause: es war ein Mädchen... ;-)

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